Hintergründe

«Es war die Erfindung der humanitären Schweiz»

Vor 150 Jahren marschierte eine ausländische Armee in die Schweiz ein. Aber ohne Feindseligkeit. 1871 fanden die vom preussischen Feind umzingelten französischen Soldaten von General Bourbaki Zuflucht in der Schweiz. Dr. Benedikt Meyer, freier Historiker und Autor, begleitet uns zurück in die Zeit der Begründung der humanitären Tradition unseres Landes.

Ludovic Cuany

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Französische Soldaten überqueren die Schweizer Grenze. Detail «Bourbaki-Panorama» in Luzern.
Copyright: Gabriel Ammon / AURA

1. Februar 1871: Ein Datum, das in die Schweizer Geschichte eingeht. Denn an diesem Tag unterzeichnen die Vertreter der französischen und schweizerischen Armeen den Vertag, der den Beginn der grössten damaligen Flüchtlingsaktion markiert. Über 80 000 französische Soldaten der Ostarmee, die von der preussischen Armee bedrängt wurden, überquerten die Grenzposten im Waadtländer und Neuenburger Jura, um in der Schweiz Zuflucht zu finden. Dr. Benedikt MeyerTarget not accessible kommt mit uns auf dieses historische Ereignis zurück, das auch den ersten grossen Einsatz der acht Jahre zuvor gegründeten jungen Organisation des Roten Kreuzes bedeutete.

Porträt von Benedikt Meyer

Herr Meyer, können Sie kurz den historischen Kontext der Epoche erklären? Was ist der Auslöser des Konflikts zwischen Frankreich und Preussen?

Wer den Deutsch-Französischen KriegTarget not accessible von 1870/1871 begonnen hat, ist bis heute umstritten. Frankreich soll Preussen wegen einer Geschichte im Zusammenhang mit der Nachfolge des spanischen Throns den Krieg erklärt haben. Die Franzosen fürchteten den deutschen Einfluss auf das Land. Also sandten sie einen Botschafter zum König von Preussen, der diesen drängte, den Prinzen Leopold von Hohenzollern von einer Kandidatur als Thronanwärter abzubringen. Das Gespräch lief bis zum damaligen preussischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, der die Presse darüber informierte. Verärgert und gedemütigt erklärte Napoleon III. Preussen den Krieg. Wichtiger als der Ursprung des Konflikts sind aber seine Folgen. Die deutsche Seite zog als loses Staatenbündnis in den Krieg und kam als geeintes Kaiserreich aus ihm hervor. Frankreich wiederum zog als Monarchie in den Krieg und beendete ihn als Republik. Und aus dem Elsass und Lothringen wurde ein deutsches Protektorat. Hier spielte sich auch ein Grossteil der Kämpfe ab.

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Warum entschied sich die «Armée de l’Est» dafür, in der Schweiz Zuflucht zu suchen? Wie kam es dazu?

Die vom französischen General Charles-Denis BourbakiTarget not accessible befehligte «Armée de l’Est» sollte eigentlich dem von den Deutschen belagerten Belfort zu Hilfe kommen, wurde aber noch vor der Stadt in eine Schlacht verwickelt und zurückgeschlagen. Sie zog sich südwärts nach Pontarlier zurück, wo der General Bourbaki am 26. Januar 1871 versuchte, sich umzubringen. Sein Stellvertreter Justin Clinchant lenkte die Truppe daraufhin zur Schweizer Grenze und bat für seine 87 000 Mann und 12 000 Pferde um militärisches Asyl. Der Vertrag von Les VerrièreTarget not accessibles wurde in der Nacht vom 1. Februar 1871 zwischen den General Herzog, Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, und Clinchant unterzeichnet, mit Bedingungen, die weitgehend von General Herzog festgelegt wurden. Die Soldaten mussten ihre Waffen niederlegen und wurden bis zum Ende des Krieges in der Schweiz untergebracht.

Herrschte diesbezüglich Angst bei der Schweizer Bevölkerung?

Nein. Die Bourbakis waren bemitleidenswerte Gestalten. Wer nicht verletzt war, war zumindest erschöpft und oft krank. In der ganzen Schweiz wurden deshalb spontan Hilfskomitees und Frauenvereine gegründet, die sich um die Verpflegung der Internierten kümmerten. Trotzdem sind 1700 Franzosen in der Schweiz an Wunden, Krankheiten und Erschöpfung gestorben.

Wie war der Aufenthalt der Soldaten in der Schweiz?

Die meisten mussten erst mal wieder zu Kräften kommen. Wer konnte, wurde wohl mit der Zeit auch für gemeinnützige Arbeiten eingesetzt. Der Aufenthalt war aber relativ kurz. Nach sechs Wochen war die Internierung wieder vorbei. Mitte März kehrten die Bourbakis nach Frankreich zurück. Die französische Regierung bezahlte der Schweiz 12 Millionen Franken für die Unkosten – eine Summe, welche die bewiesene Menschlichkeit und Solidarität der Zivilbevölkerung nur unvollkommen darstellen kann.

Die Schweizer Zivilbevölkerung umsorgt die geschwächten Soldaten. Detail Bourbaki-Panorama Luzern
«Die Schweizer Zivilbevölkerung umsorgt die geschwächten Soldaten»: Detail Bourbaki-Panorama Luzern, Edouard Castres, 1881, Öl auf Leinwand. (Copyright: Gabriel Ammon / AURA)

Gab es irgendwelche Episoden von Rebellion seitens der Soldaten?

Nein. Was es aber gab, waren Spannungen zwischen Exildeutschen und Franzosen. In Zürich kam es im März 1871 zum TonhallekrawallTarget not accessible. Hier lebende Deutsche wollten auf die deutsche Reichsgründung anstossen – die Bourbakis sahen das als Provokation. Die Leute gingen mit Säbeln und Stuhlbeinen aufeinander los. Es gab mehrere Tote und schliesslich rückte die Schweizer Armee an, um die Lage zu beruhigen.

Warum ist die Internierung dieser Soldaten ein so wichtiges Ereignis in der Schweizer Geschichte?

Die Aufnahme der Bourbakis war eine Herkulesaufgabe. Die Bevölkerung wuchs über Nacht um 3 Prozent. Und das mitten in einem der härtesten Winter. Man musste sich anstrengen und über die Kantonsgrenzen hinweg zusammenarbeiten, um die Leute versorgen zu können. Fast alle Kantone haben Soldaten aufgenommen. Sie wurden auf rund 190 Gemeinden verteilt. Hervorzuheben ist auch die beispiellose Zusammenarbeit von Zivilbevölkerung, Staat und Hilfswerken. Es war zudem der erste grössere Einsatz des Roten KreuzesTarget not accessible und der Anfang der «humanitären Tradition», von der heute so gerne gesprochen wird. Trotzdem: Gäbe es das berühmte Bourbaki-PanoramabildTarget not accessible nicht, wären Bourbakis Soldaten heute wohl mehr oder weniger vergessen.

Welche Auswirkungen hat diese historische Episode auf das Bild der Schweiz?

Es war die Erfindung der humanitären Schweiz. Das Rote Kreuz war eine nette Idee, aber letztlich waren das Aussenseiter. In der Bourbaki-Krise zeigte die Organisation zum ersten Mal, was sie leisten konnte – und die Schweizer Bevölkerung zog am selben Strang. Das führte dazu, dass die Rotkreuzlerinnen (es waren ja schon damals mehrheitlich Frauen) nicht einfach als Verrückte betrachtet wurden, sondern dass die Schweizer Bevölkerung sich mit ihnen identifizierte. Die Schweiz und das Rote Kreuz vermischten sich gewissermassen.

Möchten Sie abschliessend noch etwas sagen?

Ja, besuchen Sie das Bourbaki-PanoramaTarget not accessible in Luzern! Ich habe schon allerhand gesehen − 3-D-Filme, VR, IMAX und vieles mehr. Darum hätte ich nie damit gerechnet, dass mich eine Malerei aus dem 19. Jahrhundert so dermassen umhaut. Aber die Erfahrung, von einem Bild umgeben, ja in ihm drin zu sein, ist völlig einzigartig − noch dazu angesichts des Themas des Bilds. Ich bin sicher zwei Stunden geblieben, auch weil es didaktisch super gemacht ist. Als ich schliesslich wieder nach draussen trat, war ich auf seltsame Weise seekrank. Vermutlich, weil unsere Augen und unser Gehirn es sich einfach nicht gewohnt sind, in so einem riesigen Rundbild zu stehen.

Besuchende auf der Plattform, umgeben vom «Bourbaki-Panorama».
Besuchende auf der Plattform, umgeben vom Rundbild «Bourbaki-Panorama». (Copyright: Emanuel Ammon / AURA)

Zum Gedenken an dieses Jubiläum geben wir eine spezielle Briefmarke heraus, die dieses beispiellose humanitäre Engagement der Schweizer Bevölkerung würdigt. Sie finden sie in unserem Onlineshop.

Tipp: Scannen Sie die Briefmarke mit der Post-App und tauchen Sie in das eindrückliche Panoramabild ein.

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