Hintergründe

Post für Schellen-Ursli

Guarda, das Heimatdorf des Kinderbuch-Helden Schellen-Ursli, lockt an manchen Tagen ganze Besucherscharen ins Unterengandin. Für Zusteller Armon Bezzola jedoch ist das Idyll «der schönste Arbeitsplatz der Welt». Wir haben ihn auf seiner Tour durch Guarda und zum benachbarten Weiler Bos-cha begleitet.

Thomas Häusermann

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Das Haus Nr. 51 (links) in Guarda diente als Vorlage für das Elternhaus des Kinderbuch-Helden Schellen-Ursli. Das Paket, das Armon Bezzola austrägt, hat aber einen anderen Adressaten. (Copyright: Federico Sette)
Das Haus Nr. 51 (links) in Guarda diente als Vorlage für das Elternhaus des Kinderbuch-Helden Schellen-Ursli. Das Paket, das Armon Bezzola austrägt, hat aber einen anderen Adressaten. (Copyright: Federico Sette)

Ein Montagmorgen im August, Quellwolken ziehen über das Unterengadin. Vor dem kleinen Volg, dem einzigen Laden im Dorf Guarda, treffen wir auf Armon Bezzola. Vor uns steht ein gut gelaunter Mann mittleren Alters, ein Lächeln im Gesicht, kräftiger Händedruck. Er sei schon lange auf den Beinen, habe seit 6 Uhr in Zernez Briefe und Pakete sortiert und bereits im Nachbarsdorf Lavin verteilt, erzählt er. Jetzt, um 9 Uhr, ist Guarda an der Reihe. Das Dorf auf rund 1600 Metern über Meer ist ein beliebtes Ausflugsziel, weil «Schellen-UrsliTarget not accessible» hier spielt. Das 1945 erschienene Werk von Illustrator Alois Carigiet und Autorin Selina Chönz gehört zu den berühmtesten Schweizer Kinderbüchern. Seit Xavier Kollers Verfilmung 2015 sei das Interesse am Dorf nochmals merklich gestiegen, hat Bezzola beobachtet.

Es ist ruhig, viele Leute sind noch nicht unterwegs. Ein paar Einheimische gehen ihren Besorgungen nach, ab und zu kommen Wanderer des Weges. «Ich achte darauf, bei Zeiten in Guarda zu beginnen, da halten sich die Touristenströme noch in Grenzen», sagt der Pöstler. An manchen Tagen könne die Zustellung aber durchaus zur Herausforderung werden: «Man kommt mit dem Auto fast nicht mehr durch – oder Post und Touristen überholen sich gegenseitig, weil wir ja doch alle paar Meter wieder aussteigen müssen», lacht Bezzola. Ihn scheint so schnell nichts aus der Ruhe zu bringen.

Bun di, guten Morgen! Zusteller Armon Bezzola ist in der Region verwurzelt, man kennt sich, an jeder Ecke wird gegrüsst. (Copyright: Federico Sette)
Bun di, guten Morgen! Zusteller Armon Bezzola ist in der Region verwurzelt, man kennt sich, an jeder Ecke wird gegrüsst. (Copyright: Federico Sette)

Dann geht es los. Mit dem Auto darf in Guarda nur mit Sonderbewilligung gefahren werden. Bezzola lenkt sein gelbes Fahrzeug im Schritttempo durch die engen, gepflasterten Gassen, hält immer wieder an, grüsst an jeder Ecke mit einem freundlichen «Bun di!» oder «Allegra!». Hat er Pakete abzugeben, klingelt er, wechselt ein paar Worte. Bei der Zustellung von Briefen und Zeitungen pflegt Bezzola jene Tradition, die im Dorf seit Jahrzehnten gilt: «Wenn die Tür offen ist, legt man die Post auf die Schwelle, ansonsten in den Briefkasten.» Das habe mit Respekt und Vertrauen zu tun, fügt er an.

In Guarda darf nur mit Sonderbewilligung Auto gefahren werden. Armon Bezzola lenkt sein Fahrzeug gekonnt durch die engen, gepflasterten Gassen. (Copyright: Federico Sette)
In Guarda darf nur mit Sonderbewilligung Auto gefahren werden. Armon Bezzola lenkt sein Fahrzeug gekonnt durch die engen, gepflasterten Gassen. (Copyright: Federico Sette)
Hat Bezzola ein Paket abzuliefern, klingelt er, wechselt ein paar Worte.  (Copyright: Federico Sette)
Hat Bezzola ein Paket abzuliefern, klingelt er, wechselt ein paar Worte. (Copyright: Federico Sette)
In Guarda pflegt der Pöstler eine langjährige Tradition: Steht die Tür offen, legt er Briefe und Zeitung auf die Schwelle. Ist die Tür geschlossen, kommt die Post in den Briefkasten. (Copyright: Federico Sette)

Seit fast zehn Jahren trägt Bezzola nebenberuflich Zeitungen, Briefe und Pakete aus. Hauptberuflich ist er Bio-Landwirt, betreibt Mutterkuhhaltung. Er ist einer von hier, kommt – wie die Post, die er verteilt – aus dem nahegelegenen Zernez, ist mit allen Einheimischen per Du. «Viele Menschen kannte ich schon durch das Bauern, mit einigen bin ich sogar aufgewachsen.»

In Guarda pflegt der Pöstler eine langjährige Tradition: Steht die Tür offen, legt er Briefe und Zeitung auf die Schwelle. Ist die Tür geschlossen, kommt die Post in den Briefkasten. (Copyright: Federico Sette)

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Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: Die Erhaltung von Guarda ist einzigartig, die meisten Häuser stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.  (Copyright: Federico Sette)
Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: Die Erhaltung von Guarda ist einzigartig, die meisten Häuser stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. (Copyright: Federico Sette)

An einem kleinen Platz, der Plazzetta zuos-cha, plätschert ein runder Holzbrunnen. Bezzola zeigt auf ein Haus, das aussieht wie jedes andere hier: «Das ist es jetzt eben, das berühmte Schellen-Ursli-Haus, das Haus Nummer 51.» Heute beherbergt es Feriengäste. Oft werde er von Touristen angesprochen und gefragt, wo das Elternhaus des kleinen Kinderbuch-Helden stehe, erzählt der Zusteller. Er hilft gerne. «Wir Pöstler sind immer freundlich, denn schliesslich geben wir der Post ein Gesicht», sagt er.


Die Engadinerhäuser in Guarda sind mit dem jahrhundertealten Kunsthandwerk Sgraffito verziert. (Copyright: Federico Sette)

Auf seiner Tour durch das am Sonnenhang gebaute Dorf, das einen atemberaubenden Blick ins Tal bietet, gerät Bezzola immer wieder aufs Neue ins Schwärmen. «Schau mal, das ist doch der schönste Arbeitsplatz der Welt», sagt er. Man kann ihm nur beipflichten. Die meisten Häuser stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, sind mit kunstvollen Malereien, sogenannten SgraffitiTarget not accessible, verziert und sorgfältig instandgehalten. Im Gegensatz zu vielen anderen Dörfern im Unterengadin wurde Guarda von grossen Bränden und Kriegen verschont.

Die Engadinerhäuser in Guarda sind mit dem jahrhundertealten Kunsthandwerk Sgraffito verziert. (Copyright: Federico Sette)

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Der Weiler Bos-cha liegt gleich neben Guarda und ist in wenigen Minuten erreichbar. Ist die Strasse im Winter wegen Lawinengefahr gesperrt, dauert der Umweg durchs Tal hingegen 45 Minuten. (Copyright: Federico Sette)
Der Weiler Bos-cha liegt gleich neben Guarda und ist in wenigen Minuten erreichbar. Ist die Strasse im Winter wegen Lawinengefahr gesperrt, dauert der Umweg durchs Tal hingegen 45 Minuten. (Copyright: Federico Sette)

Wir sind am Dorfrand angekommen, eine kurze Autofahrt zur benachbarten Siedlung Bos-cha, die zur Zustellroute gehört, steht an. Der Weiler besteht aus ein paar wenigen Häusern. Im Winter, erzählt der 50-Jährige unterwegs, komme es vor, dass die Strasse dorthin aufgrund von Lawinengefahr gesperrt sei. «Der Umweg durchs Tal dauert 45 Minuten. Wir nehmen ihn aber für jeden einzelnen A-Post-Brief in Kauf», versichert er.

Not Schlegel (links) lebt seit 80 Jahren in Bos-cha, einem Weiler neben Guarda. Mit Pöstler Bezzola verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. (Copyright: Federico Sette)
Not Schlegel (links) lebt seit 80 Jahren in Bos-cha, einem Weiler neben Guarda. Mit Pöstler Bezzola verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. (Copyright: Federico Sette)

«Kommt, ich stelle euch ein Dorforiginal vor» sagt Bezzola und verschwindet im malerischen Eingang eines Bauernhauses. Man hört Gelächter, ein bärtiger Mann erscheint, grüsst freundlich. Not Schlegel wohnt in diesem Haus seit seiner Geburt vor 80 Jahren. Die beiden Landwirte scheinen sich zu mögen, nehmen sich gegenseitig hoch und klopfen Sprüche. «Du bist nebenberuflich Pöstler, ich beziehe nebenberuflich AHV», lacht der Rentner, der auf seinem Hof immer noch Hand anlegt. Er erzählt, dass in Bos-cha immer weniger Junge wohnten. «Wir sind froh, dass wenigstens die Post jeden Tag hier vorbeikommt.»

Werkstatt statt Café: Seine Pause verbringt Bezzola bei Claudio Franziscus (rechts), einem befreundeten Landmaschinenmechaniker. (Copyright: Federico Sette)
Werkstatt statt Café: Seine Pause verbringt Bezzola bei Claudio Franziscus (rechts), einem befreundeten Landmaschinenmechaniker. (Copyright: Federico Sette)

Mittlerweile ist es 10 Uhr. Gleich um die Ecke liegt die Werkstatt von Claudio Franziscus, einem Landmaschinenmechaniker. Mehrere Männer schrauben hier im Sommer an Quads und Mähern, im Winter an Pistenfahrzeugen. «Ich verbringe meine Kaffeepause immer hier bei meinen Freunden, da es in Guarda kein Café gibt», sagt Bezzola und ruft auf romanisch in die Werkstatt hinein, dass er heute zwei Gäste mitbringe. Die Stimmung ist herzlich, eine Viertelstunde lang werden Neuigkeiten ausgetauscht und Anekdoten erzählt.

Dann geht es zurück nach Zernez. Gegen Mittag ist Bezzolas Arbeitstag als Pöstler zu Ende, nun tauscht er die Uniform gegen Gummistiefel. Die Mutterkühe mit ihren Kälbern und Rindern warten.

Blick ins Tal: Guarda ist am Hang gebaut und bietet eine beeindruckende Aussicht. In der Bildmitte ist das Dorf Lavin zu sehen, das zusammen mit Guarda und Bos-cha eine Zustell-Tour bildet. (Copyright: Federico Sette)
Blick ins Tal: Guarda ist am Hang gebaut und bietet eine beeindruckende Aussicht. In der Bildmitte ist das Dorf Lavin zu sehen, das zusammen mit Guarda und Bos-cha eine Zustell-Tour bildet. (Copyright: Federico Sette)

verfasst von

Thomas Häusermann

Zusteller, Fremdenführer und Seelentröster

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