Hintergründe

«Alle haben ein Recht darauf, ihre Post zu erhalten!»

1000 Meter Höhenunterschied, rund 20 Kilometer Strecke und unzählige Serpentinen: Heute begleiten wir die Pöstlerin Romana Quanchi auf ihrer Zustelltour, die in Bosco Gurin endet. Eine Reise in ein Tal, wo sich der Tagesablauf noch nach der Auslieferung der Post richtet.

Claudia Iraoui

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Frau vor einem ortstypischen Haus in Bosco Gurin.
Romana Quanchi, 54, arbeitet seit sechs Jahren als Zustellbotin für die Post im Bezirk Vallemaggia. (Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

Die Strasse nach Bosco Gurin führt stetig bergauf. Als ich mit der Pöstlerin Romana Quanchi in ihrem gelben Fiat Panda von der Zustellstelle in Cevio im Maggiatal losfahre, warnt sie mich vor: «Ich hoffe, du leidest nicht unter Reiseübelkeit!» Tatsächlich beinhaltet ihre Zustelltour eine endlose Anzahl Kurven und 1000 Meter Höhenunterschied. Auch trübes Wetter kann dieser atemberaubenden Landschaft nichts anhaben: tiefe Täler, terrassierte Hänge, an denen einst Weinbau betrieben wurde, Trockenmauern und Dörfer mit Holz- und Steinhäusern. Der Panda ist ein kleiner Farbtupfer inmitten der vielen Grau- und Brauntöne, die das Ende des Winters in den Bergen mit sich bringt.

Zwei Frauen in Postuniform vor der hinteren Tür eines Autos.
Übergabe an die für die Zustellung im Val di Campo zuständige Kollegin, und weiter gehts! (Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

In Linescio hält Romana vor der Osteria Sascola, um ihrer Kollegin Ruth die Sendungen für das Valle di Campo zu übergeben. Dann geht es weiter. Alle Autofahrerinnen und Autofahrer, die uns entgegenkommen, grüssen die Pöstlerin. Romana lächelt: «In den Tälern kennt man die Pöstler noch.»

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Steinhäuser in einem Ortsteil von Cerentino.
(Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

Zeitung und Käse

Wir erreichen Cerentino, das aus einigen kleinen Weilern besteht, die am Berghang kleben. Nach einem Halt beim eindrücklichen Patrizierhaus fahren wir an der Kirche vorbei und machen fast eine 180-Grad-Wendung, um zum Weiler Corte di Sopra zu gelangen. Romana steigt aus dem Auto und zeigt auf ein Fenster, aus dem uns ein Herr mit Schnauz beobachtet. «Er wartet auf die Zeitung», erklärt die 54-Jährige aus Giumaglio.

Eine Frau übergibt einer älteren Dame die Zeitung.

«Hier lebt man hauptsächlich vom Tourismus und der Landwirtschaft. Die Leute ziehen weg aus den Tälern, es sind vor allem ältere Menschen und Bauern, die bleiben. Wir müssen grosse Entfernungen zurücklegen, aber alle haben ein Recht darauf, täglich ihre Post zu erhalten. Das gehört zur Grundversorgung!» In der Nähe eines Bauernhauses, das in einer Kurve liegt, versperren uns neugierige Ziegen den Weg.

(Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

Auto und Ziegen auf der Strasse.

«Hier kaufe ich ab und zu Käse. Er ist wirklich köstlich», sagt Romana, während sie dem Landwirt die Post persönlich überreicht. Die Fahrt geht weiter, die Strassen werden immer enger und unübersichtlicher. Viele Briefkästen stehen direkt am Strassenrand. Romana springt aus dem Auto, wirft die Post ein und fährt weiter.

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Ein sehr besonderes Dorf

Hinter Camanoglio ändert sich die Landschaft schlagartig. Kastanienbäume und Birken weichen Tannen und Lärchen, und der Schnee erinnert uns daran, dass wir immer höher steigen. Und plötzlich ist die Strasse zu Ende: «Willkommen in Bosco Gurin», begrüsst uns ein Schild. Die Tessiner Ortschaft liegt eingebettet in die Talmulde des Valle di Bosco und ist mit 1504 Metern über Meer die höchstgelegene Gemeinde des Kantons. Nicht nur ihre Lage ist einzigartig: Sie ist auch die einzige deutschsprachige Tessiner Gemeinde, gegründet 1253 von Walser Siedlern, die vom Wallis herkamen. Auch heute noch sprechen die 60 Einwohnerinnen und Einwohner den Walserdialekt «Ggurijnartitsch».

 
Der Schnee ist noch nicht geschmolzen. Inzwischen stellt Romana die Post in Bosco Gurin zu.
Der Schnee ist noch nicht geschmolzen. Inzwischen stellt Romana die Post in Bosco Gurin zu. (Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

Nachdem sie die Zeitungen zum Hotel Walser gebracht und sich mit einem heissen Tee aufgewärmt hat, setzt Romana ihre Mütze auf und macht sich auf den Teil ihrer Tour, den sie zu Fuss zurücklegt. Die traditionellen Häuser mit Schieferdächern und die torbe (Anm. d. R.: charakteristische Speicher aus Stein und Holz zur Lagerung von Getreide, vor allem Roggen) schmiegen sich zwischen engen Strässchen und steilen Treppen aneinander. Fast jedes Haus hat einen Garten. Eine der ersten Etappen ist die Brauerei/Bäckerei, die auch eine Filiale der Post ist. Alfio, Inhaber und ehemaliger Pöstler, scherzt: «Wahrscheinlich ist das die kleinste Filiale mit Partner der Schweiz.» Jeden Tag bringt Alfio den Sack mit den Sendungen des Tages, die talabwärts müssen, zum 12.30-Uhr-Postauto.

Die Filiale mit Partner in Bosco Gurin.
Die Filiale mit Partner in Bosco Gurin. (Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

Die Zeit scheint stillzustehen, die Post bewegt sich.

Vielleicht ist es das kalte Wetter, vielleicht ist es die Nebensaison, jedenfalls treffen wir auf der Tour nur wenige Leute an. Als wir einer Frau begegnen, die auf dem Rückweg vom Einkauf im kleinen Coop ist, nutzt Romana die Gelegenheit und übergibt ihr die Post. «Die Einwohner von Bosco Gurin sind sehr zurückhaltend, einige haben nicht einmal einen Briefkasten. Also klopfe ich an und überreiche ihnen die Post persönlich», erklärt Romana. Haus um Haus nähert sich die Zustelltour ihrem Ende. In Bosco Gurin scheint die Zeit stillzustehen. Nicht aber für die Post, die Sendungen werden jeden Tag zugestellt. Es bleibt noch kurz Zeit, um die Schönheit des Dorfes zu bewundern, dann fahren wir zurück nach Cevio.

Bosco Gurin
(Copyright: Kostas Maros www.kostasmaros.com)

verfasst von

Claudia Iraoui

Channel Manager Digital

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