Mit viel Mut zum Klettersteig
Die Route auf den Gantrisch ist nicht ohne: Die Post widmet sie in ihrer Wanderbroschüre dem Steinbock – denn ein kurzes Stück vor dem Gipfel ist steil und verlangt Trittsicherheit.
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Es ist so wie fast immer, bevor es zum Wandern losgeht - doch heute ist es schlimmer: Ich habe den Wecker zu spät gestellt und Picknick habe ich auch keins. Doch so richtig schlimm ist, dass mein Handy gerade noch 20 Prozent geladen ist. Nicht mal eine Powerbank für unterwegs habe ich, seit die Flughafensecurity sie mir aus dem Gepäck entfernt hat. Ohne Handy alleine auf die Wanderung «Mutprobe am Gantrisch» ! ? Geht gar nicht!
Aufbruch ins Ungewisse
Immerhin habe ich die Wanderstrecke auf Papier: Sie ist eine der acht Routen der aktuellen Wanderbroschüre der Post.
Aber: Wie mache ich unterwegs Fotos? Wie weiss ich, wo genau ich bin? Und was, wenn ich eine falsche Abzweigung erwische?
Wenigstens reicht es am Bahnhof noch knapp, schnell ein Sandwich und einen Apfel zu kaufen. In der Bahn dann die Erleichterung: In der ersten Klasse finde ich Steckdosen. Ich lade mein Telefon um ein paar Prozentpunkte auf.
Herausforderung am Fels
Die Aufregung bleibt, denn die bevorstehende Route braucht Mut: Ein Stück davon ist Klettersteig.
Als ich meinen Redaktionskollegen gefragt habe, ob er denn mitkäme, meinte er bloss entgeistert: «Unmöglich. Das kann ich nie!» Er kann das nie? Er, der über ein Jahr mitten im Bürgerkriegsgebiet im Sudan gelebt hat?
Darauf hat sich in meiner Vorstellung ein Wanderweg entspinnt, der sich auf einem schmalen Grat über tiefen Abhängen erstreckt, und danach in eine überhängende Steilwand hochgeht – Klettersteig eben!
In der Post-Broschüre hat diese Route als passendes Maskottchen den Steinbock: Dieses Alpentier schafft es locker die steilsten Felshänge rauf und runter.
Copyright: Claudia Langenegger
Es kommt alles anders
In Gedanken begebe ich mich also auf eine gefahrenreiche Überlebensübung auf unwegsamen Pfaden in der abgelegenen Wildnis. Die Wirklichkeit fühlt sich dann aber eher wie ein Maibummel an. Der sonnigwarme Tag zieht Rentner und Schulklassen nach draussen und das Poschi, das vom Gürbetal Richtung Gurnigel kurvt, ist proppevoll.
Vor meinem Fensterpatz zieht das wohl schönste Voralpengebiet der Schweiz vorbei – lauschige Hügel, liebliche Wiesen, dunkelgrüne Wälder - es könnte ewig so weitergehen. An der Station «Wasserscheide» (1584m) spuckt der gelbe Bus mich und fast alle Passagiere aus und ich finde mich in einer Gruppe fröhlicher Wandervögel wieder. Die Menschenansammlung löst sich zu meiner Erleichterung schnell auf, die Wanderfreudigen ziehen in alle Himmelsrichtungen los. Bloss für ein Pärchen ist wandern zu langsam – sie rennen den Berg hoch.
Copyright: Claudia Langenegger
Pass mit Panorama
Der Weg zieht sich über einen grünen Hang hoch, leiblich spiegeln sich die Berggipfel in einem Tümpel , ich komme an einem Berggasthaus mit gemütlicher Holzfassade vorbei, in einem Brunnen plätschert friedlich frisches Bergwasser.
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Ein paar drahtige Wanderer zweigen zur Nordflanke des GantrischsTarget not accessible ab, vor mir tauschen sich zwei Frauen auf Italienisch über ihre Zukunftspläne aus, hinter mir hänge ich eine Gruppe Frührentner ab.
Beim Leiterepass (1905m) hat sich eine Gruppe Schüler im Schatten breitgemacht und die Lehrerin tut lautstark kund, dass es ja niemand wagen sollte, ihre Schulklasse ohne schriftliche Erlaubnis zu fotografieren.
Ich knipse fröhlich weiter, denn mein Sujet ist das umwerfende Panorama ringsum.
Wie im Bilderbuch
Es ist wie im Werbeprospekt, bloss schöner: knallblauer Himmel, saftige Hügel, graue Felskanten und auf der Südseite des Leiterepasses die fantastische Sicht über die Bergkette zum Stockhorn, die Bergflanken des Simmentals. Und irgendwo im Dunst kann ich die Tobleroneform des NiesensTarget not accessible ausmachen.
Richtiger Weg?
Ein Wegweiser zeigt mir die Richtung, ich marschiere fröhlich weiter, doch dann erblicke ich einen parallelen Pfad weiter unten in der Wiese – sollte ich nicht etwa dort sein? Wäre nicht das der richtige Weg? Ich nehme die Broschüre mit der Karte hervor, werde nicht schlau, versuche trotz niedrigem Akkustand auf Netz zu gelangen, um meinen Standort zu kontrollieren - aber oha nein, ich bin in einem Funkloch! Ja, ich bin ja in der Wildnis! Wie konnte ich dies bloss vergessen!
Mir bleibt nur eines übrig: Weitergehen. Panik schieben. Ruhig bleiben. Kurz später die Erleichterung: Ich sehe, wie sich der parallele Weg im Gras verliert. Ich bin goldrichtig hier.
Doch unter meinen Füssen macht sich Restschnee breit. Riesig, glatt, rutschig und gefährlich! Warum habe ich bloss keine Wanderstöcke dabei?!? Trotzdem liebe ich das liegengebliebene Weiss – die Kälte tut gut, denn mit dem nahenden Mittag ist die Temperatur auch hier auf fast 2000 Metern auf Sommerhitzeniveau angestiegen.
Klettern? Viel Aufregung um nichts.
Bald komme ich zur Abzweigung, an der es rechts zum Gipfel des Gantrischs hochgeht – inklusive Klettersteig. Die Gefahrenzone also! Die Wanderung bleibt aber harmlos. Der Grat bleibt recht breit, überhängend wird es sowieso nicht und erst unterhalb des Gipfel wird es etwas steil. Es ist ein Stahlseil in den Felsen eingelassen, an dem ich mich festhalten kann. Es braucht bloss ein bisschen Trittsicherheit.
Gipfelgenuss
Der Aufstieg auf die 2175 Meter lohnt sich: ein einsamer grüner Gipfel, Dohlen, die sich im Aufwind gleiten lassen und ringsum eine umwerfende Aussicht. Wenn der Dunst nicht wäre, würde ich glatt bis nach Frankreich sehen.
Nach der Entspannung pur, dem Sandwich und frischen Brunnenwasser folgt noch einmal ein kurzes Stück Anspannung: Denn am Berg steil abwärts zu steigen ist stets schlimmer als steil aufwärts. Doch der Klettersteig ist auch auf dem Rückweg nicht so waghalsig steil wie befürchtet.
Lauschiges Wäldchen
Und so gehe ich leichten Schrittes den zweiten Teil der Rundwanderung: zum Morgetepass (1959m) und von da aus zur Gantrischhütte und wieder zurück zur Wasserscheide. Die Sonne brennt mittlerweile erbarmungslos und ich schmiere mich nochmals mit Sonnencreme ein. Leider reicht es nicht mehr für eine Pause am Gantrischseeli, das kühl und erfrischend zu meiner linken zwischen den Tannen liegt.
Ich bin begeistert vom allerletzten Wegabschnitt. Er führt unter Bäumen hindurch, schlängelt sich schmal und lieblich durch ein Wäldchen. Es gibt ein allerletztes Foto – und dann verabschiedet sich das Handy mit schwarzem Display.
Bei der PostAuto-Haltestelle warte ich kurz, und schon kommt das Poschi, das mich kurvenreich zurück in die Zivilisation bringt. Nach all der Aufregung am Morgen früh bin ich nun so zufrieden und entspannt, dass ich nach drei Minuten Fahrt einschlafe. Wovon ich träume: von einem Steinbock natürlich.