Hintergründe

Wie die Schweiz zur Briefwahl-Nation wurde

Abstimmen per Brief ist heute in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Dies allerdings noch gar nicht so lange. Wie und warum hat sich die Briefwahl zur beliebtesten Art der Stimmabgabe entwickelt?

Susanna Stalder

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Den Wahl- oder Abstimmungszettel ausfüllen, den Stimmrechtsausweis unterschreiben und beides ins Couvert stecken. Dann ab damit zum nächsten Briefeinwurf: So sieht Wählen und Abstimmen heute meistens aus. Bei vielen Abstimmungen entscheiden sich über 90 Prozent der Stimmenden für den Brief anstatt für den Gang zur Urne. Aufgrund der Corona Pandemie ist dieser Anteil weiter gestiegen.

Im Kanton Tessin seit 2015

Auch wenn sich die briefliche Stimmabgabe mittlerweile selbstverständlich anfühlt: So lange gibt es sie noch gar nicht, jedenfalls nicht für alle Schweizerinnen und Schweizer und nicht in der bequemen Weise, wie wir sie heute kennen. Die Einführung der Briefwahl hat sich über Jahrzehnte hingezogen. Die Briefwahl für alle und ohne, dass die Stimmberechtigten dafür einen Antrag stellen mussten, führten die ersten Kantone – Baselland, St. Gallen und Appenzell Innerrhoden – Ende der 1970er-Jahre ein. Auf Bundesebene erfolgte dieser Schritt 1994, im Kanton Tessin 2015. Die Einführung der allgemeinen Briefwahl hatte jeweils eine Steigerung der Stimmbeteiligung von circa 4 Prozent zur Folge.

«Es gab mehrere Vorläufer und Vorstufen», sagt Hans-Peter Schaub, Politikwissenschaftler und Leiter der Abstimmungsdatenbank Swissvotes bei Année Politique Suisse an der Universität Bern. «Bereits im 17. Jahrhundert durften in der Stadt St. Gallen zum Beispiel Kranke per Brief abstimmen.» Im Bundesstaat wurde das Thema ab den 1870er-Jahren immer wieder diskutiert. Ein weiterer Vorläufer war, dass während des Zweiten Weltkriegs Soldaten im Aktivdienst brieflich abstimmen konnten. Und 1950 ermöglichte der Kanton Genf bestimmten Personengruppen die Briefwahl.

Die Gesellschaft wird mobiler

Die eingeschränkte Briefwahl wurde Schritt für Schritt in weiteren Kantonen eingeführt und auf zusätzliche Personengruppen ausgeweitet; 1967 folgte der Bund. «Ein typisch schweizerisches Vorgehen», meint Hans-Peter Schaub dazu. Die Auslöser? «Einerseits wurde die Gesellschaft mobiler, man arbeitete oft nicht mehr am Wohnort, reiste häufiger.» An einem bestimmten Sonntag und an einem bestimmten Ort an die Urne zu gehen, liess sich also für viele Bürgerinnen und Bürger schlechter einrichten. «Andererseits strebte man die Integration weiterer Bevölkerungsgruppen an, beispielsweise die der Auslandschweizer oder der Inhaftierten.»

Vertrauen in Behörden und Post

Argumente gegen die Briefwahl gab und gibt es. Etwa jenes, dass bei diesem Kanal das Stimmgeheimnis nicht garantiert werden kann: Zum Beispiel könnte eine Person für eine andere im gleichen Haushalt lebende Person den Stimmzettel ausfüllen oder Druck auf sie ausüben, Ja oder Nein abzustimmen. Ein weiteres Argument ist das der Betrugsgefahr. So könnten etwa Stimmzettel willentlich vernichtet werden. «Grundsätzlich dominiert in der Schweiz jedoch die Haltung, dass man der Post und den Behörden vertrauen kann», so Hans-Peter Schaub. Für die Stimmberechtigten bedeutete der Schritt vom Urnengang zur brieflichen Stimmabgabe vor allem eine grosse Vereinfachung. «Nach den 1990ern war die Briefwahl kaum mehr umstritten.» Generell fasst er die Entwicklung der Briefwahl wie folgt zusammen: «Wenn sich die Gesellschaft stark verändert, führt dies dazu, dass neue Formen der Stimmabgabe gefordert und mehrheitsfähig werden.»

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